Philipp und Leah waren in „Breaking the Waves“ im Schauspiel Stuttgart – und unterhielten sich darüber.
Der Palast der Republik. Klebrige Tische draußen. Um uns ist es voll und laut. Getunte Autos muskeln mit karnivorem Gas vorbei.
PHILIPP Ja, jetzt kommt der After Theatre Tea. Bei mir gibt‘s ein Bier als Tee. Und bei dir?
LEAH Latte Macchiato. Ich weiß nicht, ob ich nachher noch schlafen kann.
PHILIPP Wunderbarer Tee.
Lachen. Dann Schweigen.
PHILIPP Oh, die Notizen. Bei dir sehen die so ordentlich aus. Bei mir sieht‘s immer aus wie Krieg. Naja, vielleicht fangen wir mit was Schönem an. Mit Ausziehen. Das passiert ja immer wieder. An und aus. Und ob man das wohl als Leitmotiv verstehen können will oder könnte. Am Anfang fährt Dodo noch das Publikum an, von wegen „jetzt gucken Sie doch mal weg, das geht doch nicht!“ Und versucht hilflos, Bess irgendwie zu verstecken, was natürlich nicht geht. Und als sie sich dagegen später beim Arzt auszieht, weil sie ihn ins Bett kriegen will, da muss er sich auch umdrehen, doch von der anfänglichen Prüderie ist so gut wie nichts übrig geblieben. Und das ist dann passiert, die Veränderung. Und jetzt? Bess ändert ihre Einstellung. Fertig?
LEAH Ja, das ist es. Passiert halt, und jetzt? Die Frage bleibt. Wobei Bess ja genau dadurch Jan treu bleibt, dass sie ihre Einstellung ändert, durch das ganze Stück hindurch, während sie sozial immer weiter absteigt.
PHILIPP Und alles beginnt, als sie sich endlich aus den Fesseln dieser besseren Sektengemeinschaft zu befreien beginnt, und zwar, indem sie einen Außenstehenden heiratet. Alles scheint gut, doch leider steckt in der Beziehung noch ein Dritter, dieser Gott von Bess, der sich verhält wie ein versoffener alter Vater, der sie als Kind behandelt und ihr ununterbrochen Vorwürfe macht, während sie ihn andauernd anbetteln muss. Nicht einmal eine eigene Stimme bekommt der. Alles kommt aus Bess‘ Mund. Ist er nur in ihrem Kopf anwesend?
LEAH Sie scheint sich Ratschläge zu holen. Dadurch, dass er ab und zu auftaucht, entsteht ein ziemlicher Bruch.
PHILIPP Mir fällt da auch die Bühne wieder ein. Chaotisch übereinander geschmissene graue düstere Kreuze. Die Müllhalde des Christentums mit dem Charakter eines Friedhofs, wenn man es so will. Von der Schönheit der Religion ist nichts mehr übrig. Hier regiert ihr bedrohlicher Schatten. Grau, hässlich, verraucht. Mit den christlichen Symbolen und Begriffen wird zwar noch hantiert, aber das Lebendige dieses Glaubens ist schon lange abwesend. Das Setting ist eine Todeszone.
LEAH Und Bess und Jan sind darin Fremde. Er ist fremd von Anfang an und sie wird immer mehr in seine Fremdheit hineingezogen und immer einsamer, bis sie in vollkommener Verlassenheit endet.
PHILIPP Eine Entfremdungsgeschichte. Und auch die eine großen Verlorenheit, existenziell, auch metaphysich, wenn man es so will, trotz oder gerade wegen des sporadisch auftauchenden ungnädigen Säufergottes. Er ist mehr als unglaubwürdig. Genau wie der finstere Priester.
Bierseliges Geschrei. Sirenen. Zum Partybus umgebautert American School Bus tanzt in bunter Beleuchtung vorbei. Die Feuerwehr ist laut.
LEAH Wie war denn das mit dem Steinewerfen? Plopp, eins, plopp, zwei, plopp, drei und so weiter auf der Wasseroberfläche, so oft, dass es fast unglaubwürdig erscheint, das war ein schöner Effekt. Am Anfang. In der Mitte wird es wieder aufgegriffen. Jan versagt, er kriegt nur einen Hüpfer hin. Bess schafft fast unmöglich viele Sprünge.
PHILIPP Eine Parabel auf Bess‘ und Jans Versuch, das Unmögliche zu wagen? Jesusgleich ihren Weg übers Wasser zu finden? Die Wellen zu brechen, sozusagen? Wobei das nicht ganz ins Bild passt. Das Brechen der Wellen hieße hier ja – der Untergang des Steins.
Mehr Sportwagen muskeln mit dunklen, rauchigen Achtzylinderstimmen vorbei.
PHILIPP Stellt sich für dich auch die Frage, welchen Anspruch man eigentlich an so ein Theaterstück stellen kann, das als Film schon dagewesen ist? Muss nicht das Theater irgendetwas liefern, das der Film defintiv nicht hat oder kann? Ich hatte nämlich den Eindruck, dass die Inszenierung sich zu stark darauf verlässt, quasi filmisch zu erzählen. Chronologisch, Bild um Bild, die wie in einem Film ohne Unterbrechungen, also ohne Vorhang ineinander übergehen. Natürlich sind da die Projektionen, und die sind nur im Theater sinnvoll. Aber ich weiß nicht, ob das stärker ist als das, was das Medium Film bieten kann. Zeitsprünge funktionieren ja auch im Film.
LEAH Was muss das Theater, was ein Film nicht kann? Oder was kann Theater, was Film nicht kann?
PHILIPP Theater ist echt, Theater findet jetzt im Moment statt und ist gleich danach wieder vorbei. Der Film ist im Prinzip für die Ewigkeit gemacht. Ich denke, man hätte auch radikaler mit der Vorlage umgehen können, ja, müssen. Es war mir fast zu konservativ, wie die Geschichte erzählt wurde, schön chronologisch von Anfang bis Ende, zwar mit ein bisschen Zeitraffer dazwischen, Kalenderblättern, die projiziert werden, aber Zeitsprünge kann ein Film wie gesagt auch. Das Rumspritzen mit Bier hat vielleicht stärker gewirkt als auf einem Bildschirm. Aber hätte man nicht mehr verdichten, nicht freier mit der Vorlage umgehen, heftigere Bilder erschaffen können?
LEAH Wenn wir bei Bildern sind – es wurde ja auch ein ziemlich klares Bild von Gott geschaffen. Der sitzt oben im Himmel oder vielleicht auch in Bess‘ Kopf, sobald der Scheinwerfer anspringt, der schimpft und macht Vorwürfe und der betrinkt sich auch mal. Auffällig ist ja auch, dass immer Bess mit tiefer Stimme sich selbst geantwortet hat. Nur einmal ging das schief, da war es die gleiche Tonlage…
PHILIPP Ich hatte mich schon gefreut, weil ich dachte, jetzt kommt was, sie antwortet sich selbst im falschen Tonfall, entlarvt sich, verrät sich und dass ihr Gott doch nur in ihrem Kopf passiert. Aber dann schien es nur ein schauspielerischer Fehler gewesen zu sein. Die Sache wurde nicht weiterverfolgt.
LEAH Trotzdem, dieser Gott scheint nur ein Hirngespinst von Bess zu sein. Und überraschenderweise ist sie ja deshalb mit Jan wieder auf einer Ebene, da er durch seine Medikmente ebenfalls nicht mehr ganz in unserer Wirklichkeit verhaftet ist.
PHILIPP Es fließen hier nicht Fiktion und Wirklichkeit, sondern nur noch verschiedene Fiktionen ineinander. Die Frage ist nicht mehr, wer normal ist, sondern wer am wenigsten verrückt bleibt. Aber ich glaube, an der Sache haut sich das Theater den Kopf an. Denn es kann nicht die Perspektive wechseln. Wir sehen, was wir sehen. Und nicht etwa, was Jan oder Bess oder sonst wer zu sehen glauben. Da ist ein Bild auf der Bühne. Also weiß man auch nicht, mit wessen Hirngespinsten man es eigentlich noch zu tun hat oder ob nun doch schon von einer Art Wahrheit die Rede ist. Und anstatt einem widersprüchlichen Nebeneinander von verschiedenen Einbildungen kriegen wir ein eindeutiges Bild vorgesetzt – das was wir auf der Bühne sehen und hören.
American School Bus fährt wieder vorbei. Mädchenkreischen. Bremsenquietschen. Was ist höher?
LEAH Wie alt ist Bess eigentlich? Sie verhält sich manchmal erwachsen, manchmal total kindlich, wird für dumm gehalten und sagt dann, sie sei nicht dumm, sondern „ulkig“. So oder so ähnlich sagt sie das. Sie ist nichts davon wirklich. Und gleichzeitig ein unglaublich selbstloser, guter Mensch. Viel zu gut. Das merkt nur niemand, weil sie für alle anderen die Dumme, Durchgeknallte ist.
PHILIPP Und doch ein Mensch, der durch die Ironie des Schicksals endet wie das verkommenste Mädchen der Welt. Sie sieht die Welt anders als die anderen. Aber wie sehen die die Welt? Ich glaube, das war ein Hauptanliegen: verschiedene verquere Weltsichten einander gegenüberzustellen. Fast alle sind irgendwie benebelt, berauscht oder latent verrückt, als könne man anders die Welt nicht ertragen. Die besoffenen Arbeiter. Die bigotten Sektierer. Bess im Wahn. Jan auf Drogen. Dodo, zerquält. Glaubt sie eigentlich noch an etwas?
LEAH Wissen wir nicht. Aber Bess glaubt sehr fest.
PHILIPP Es ist einfach, Bess zu mögen. Zu einfach. Man vergisst, dass sie so vollgepumpt ist mit den Wahnvorstellungen dieser besseren christlichen Sekte wie Jan mit seinen Medikamenten.
LEAH Sie bleibt trotzdem ein Mensch, der nichts will als gut sein.
PHILIPP Das stimmt. Auch wenn sie scheitert.
LEAH Wir waren grade bei Wahnvorstellungen. War das Ende eigentlich die Hölle oder das Jenseits?
PHILIPP Die Szene kurz vor Schluss, als mehrere Figuren nochmal über Bess reden, als sie schon daliegt?
LEAH Genau.
PHILIPP Schwer zu sagen. Vielleicht auch einfach ein fiktiver Ort, an dem nochmal alle Ansichten über Bess verdichtet werden. Oder „Bäääs McNeeeil“, wie der Pfarrer sagen würde.
LEAH Ich weiß wirklich nicht, was ich von dem halten soll. Dem Bild eines weisen, guten Pfarrers entspricht er ja nicht unbedingt.
PHILIPP Nein. Ganz und gar nicht. Für mich ist das ein ganz mieser Rattenfänger, der die Ängste und Vorurteile schwacher Leute ausnutzt. Fast schon eine Karikatur. Wenn man nicht wüsste, dass solche Leute wirklich rumlaufen. Und was passiert, als Bess wirklich auf den Schutz der Gemeinde angewiesen ist? Unsolidarisch und grausam wird sie verstoßen. In die Einsamkeit und ihren Untergang letztendlich. Wobei sich hier auch die Schuldfrage stellt. Ich würde die Schuld zum Großteil der kranken Umgebung geben. Und den Rest Jan. Und noch ein Fitzelchen Bess selbst, weil sie nie egoistisch genug war, um rational handeln zu können. Aber vor allem die Umgebung, die Gemeinde, die Bigotterie, die einer labilen Persönlichkeit den entscheidenden Stoß in den Abgrund gibt.
LEAH Die Schuldfrage. Der Abilektüren-Modus.
PHILIPP Ja. Genau der. Es ist doch seltsam. Der Unfall trifft nur Jan. Aber am Ende nehmen so viele deswegen Schaden. Allen voran Bess.
Verdächtige Stille auf der Straße. Es ist spät geworden. Frösteln.
LEAH Was war eigentlich mit dieser Mutter-Tochter-Beziehung. Am Ende stand die Mutter nicht hinter Bess.
PHILIPP Nein. Die Mutter verliert Bess und betrachtet es wahrscheinlich als Strafe Gottes für ihre Bemühungen, Bess die Heirat zu ermöglichen.
LEAH Menschlich nahe waren die sich ja nie. Sie geht ziemlich ruppig mit Bess um.
PHILIPP Es ist vielleicht auch problematisch, dass kein Vater für Bess da ist. Ersinnt sie deswegen den Gottvater? Die Mutter scheint Bess jedenfalls nicht zu lieben. Die Mutter hat nur eiserne Grundsätze. Folge ihnen, dann akzeptiere ich dich. Sonst verschwinde. Das ist die Botschaft an ihre Tochter. Und am Ende kommt es ja genauso, Bess wird ausgestoßen. Das ist die völlige Abwesenheit von Liebe. Ganz im Kontrast die Beziehung von Bess zu Jan.
LEAH Bess handelt anders als die Mutter nach eigenen Grundsätzen. Treue zum Beispiel. Treue zu Jan. Das bringt sie in Schwierigkeiten. Weil sie, um ihm die Treue zu halten, die Grundsätze der Gemeinde verletzen muss.
PHILIPP Was sie will, ist einfach nur gut sein. Ein gutes Mädchen, koste es was es wolle. Und wer sie dazu anhält, ist ihr Gott. Dem will sie es Recht machen. Darum geht‘s doch eigentlich, nicht um ihr eigenes Ego oder so. Völlig selbstlos gibt sie sich ihrem Gott im übertragenen Sinn und Jan hautnah hin.
LEAH Ich konnt’s auch immer nachvollziehen! Selbst als sie mit einer Reihe Männern schläft, kam’s mir nicht so vor, als sei sie untreu… Das tut sie ja nur, weil Jan es sich von ihr wünscht. Zumindest äußert er den Wunsch im zugedröhnten Zustand. Er will, dass sie mit jemandem schläft um ihm davon zu erzählen, weil er ja nicht mehr mit ihr schlafen kann. Für die Gemeinde ist das natürlich eine Schande. Erst ist sie verrückt, dann schläft sie auch noch wahllos mit Männern. Oh Bääääs!
PHILIPP Das ist schon geschickt gemacht. Ja, die Geschichte ist gut, die Geschichte ist inhaltlich anspruchsvoll, da steckt viel drin. Und die Umsetzung?
LEAH Na, wie fandest du die Hochzeit?
PHILIPP Die war schön. Super. Tolle Stimmung. Schön schnulzig, mit ihrem weißen Kleid, was aber auch wirklich gut ins Gesamtbild passt.
LEAH Auch wenn nur sage und schreibe vier Leute an der Hochzeit beteiligt waren, und zwei davon hauptsächlich mit Knutschen beschäftigt waren.
PHILIPP Danach dann Kontrastprogramm: Der totale Überschwang. Stichwort Waschbecken. Das frisch getraute Brautpaar fühlt sich auf dem metallenen Waschbecken unbeobachtet und verausgabt sich. Bess lacht ununterbrochen.
LEAH Ja, total kindlich kam sie mir vor allem in der Szene vor.
PHILIPP Hab ich auch total oft aufgeschrieben: „Bess verhält sich wie ein Kind.“ Aber in jeglicher Hinsicht: Sei es auf dem Waschbecken oder dann später die Sache mit dem Krankenbett. Jan wird nach seinem Unfall auf einer Krankenliege ins Zimmer gerollt – nicht ansprechbar, nicht beweglich. Ihr scheint die Situation überhaupt nicht klar zu sein: Sie stürzt sich auf ihn, nicht mal die Krankenschwester kann sie zur Vernunft bringen.
LEAH Klar, sie blödelt rum wie ein Kind, spricht wie ein Kind, und auch die Kleidung trägt irgendwie dazu bei. Sie hat durchgängig Gummistiefel an, was das soll, weiß ich nicht. Dann die quietschgelbe Regenjacke und das Kleid mit den Polkadots… alles sehr verspielt.
PHILIPP Die Regenjacke kam mir eher so vor als soll sie sich von der konservativen, grau gehaltenen Kirchengemeinde abheben. Zumindest am Anfang. Dann ist die ja irgendwie aus dem Bild verschwunden. Einfach so. Die Jacke verschwindet und das wird dann so stehen beziehungsweise verschwunden gelassen.
Um uns herum: Lautes Gequatsche in einer Sprache, die wir nicht einordnen können. Plus – mal wieder – auf unheilvolle Weise durstig klingende Motorengeräusche.
LEAH Hatte die Sekte eigentlich einen Namen?
PHILIPP Naja, Sekte sagen sie ja gar nie. „Eigene Kirche“ heißt das da. Eigener Kosmos trifft’s auch. Niemand darf von außen rein, es ist ja dann „keiner von uns“. Ist aber auch nebensächlich, der Name – klar ist aber, dass die Gemeinde konservativ, der Pfarrer rücksichtslos und willkürlich ist.
LEAH Außer Bess scheint das aber entweder niemand zu durchschauen oder es stört niemanden – jedenfalls ist sie die Einzige, die ihre Abscheu zeigt. Indem sie ihn ab und an nachäfft. Mal wieder wie ein kleines Kind.
PHILIPP Da hätte ja eigentlich Konfliktpotenzial bestanden: Bess äfft den Pfarrer nach, er steht dabei direkt hinter ihr. Ich dachte schon: Er reagiert und das Ganze mündet in einem Streit bei dem sich nach und nach die ganze Gemeinde gegen ihn auflehnt und seine Autorität früher oder später untergraben wird. Aber stattdessen: Reaktion gleich null. Was macht er? Dreht sich um und geht weg. Schade.
LEAH Ging mir oft so, viele Themenbereiche waren nur angeschnitten. Themen, die viel mehr hergegeben hätten.
PHILIPP Vor allem hätte man eine Hintergrundgeschichte zu allem bauen können: zum Pfarrer, überhaupt zur Sekte.
LEAH Ob wohl die Sekte an ihren Hirngespinsten schuld ist? Hätte sie die auch als „normale“ Bess gehabt? Und à propos Pfarrer, hat der auch eine tiefe Stimme im Hinterkopf, die ihm Befehle zuraunt? Liegt das einfach in der Natur der Sekte? Beten sieht man ihn nie.
PHILIPP Auf jeden Fall nimmt die Sekte insofern Einfluss auf Bess, als dass sie alle Psalmen runterrattern kann, hat sie sicher eingetrichtert bekommen. Viel lesen kann sie ja nicht, und schreiben erst recht nicht. Ich sag nur „Bess und Jan, Libe für immer“.
LEAH Und „Wahrum.“ Bess und Jan: In der Telefonszene stehen sie ja beide auf der Bühne, telefonieren miteinander, sprechen zur selben Zeit an verschiedenen Orten. Er auf der Bohrinsel, sie zu Hause. Von der Decke hängen Telefonhörer an Schnüren. Was hältst du von der Umsetzung?
PHILIPP War ganz witzig eigentlich, die beiden zu hören, sie haben normal gesprochen, aber eben gefiltert wie am Telefon. Als sie dann umeinander her gelaufen sind, haben sich natürlich die Schnüre verheddert, da dachte ich, jetzt werden die Verstrickungen wortwörtlich auf die Bühne gebracht – falsch gedacht. Sie haben diese Schublade aufgemacht, aber wussten nicht so recht, was sie aus ihr rausholen sollten.
LEAH Zuerst fand ich’s eigentlich ganz erfrischend, mal ein peppiges Bühnenbild. Stimmt aber schon, wenn schon auftischen, dann richtig. Und was rausholen. Nach dem Motto „Ganz oder gar nicht“. Aber hier war’s einfach nichts Halbes und nichts Ganzes. Die Regie hätte sicher eine Erklärung, aber letztendlich zählt ja, was beim Zuschauer ankommt.
PHILIPP Das dachte ich an einigen Stellen. Einmal zum Beispiel, als ihr lieber Herrgott besoffen auf die Bühne gebracht wird. „Also bitte, da isser.“ Als Idee natürlich witzig, Gott besoffen auftreten zu lassen, warum nicht. Steht aber im Widerspruch dazu, dass er sich nur in ihrem Kopf abspielt. Diese Illusion von einem perfekten Gott wird nicht erfüllt.
LEAH Kann man aber auch so sehen, dass er sich nur in ihrem Kopf abspielt. Sie ist ja im Moment diejenige die sich betrinkt; sich dann eigentlich nur selbst wieder Schuld einredet, eben im Tonfall ihres Gottes.
PHILIPP Wenn es wirklich ihr Gott ist und nicht willkürliche Stimmen in ihrem Kopf, dann ist er eher der Moralapostel als der liebende Vater. Er redet ihr ja ständig Schuld ein, von wegen sie sei dumm und ungeduldig, ihre Anliegen lästig – er macht ihr nur Vorwürfe. Beziehungsweise sie macht sich die Vorwürfe, wenn das alles nur in ihrem Kopf passiert.
LEAH Machen viele Menschen. Was war das eigentlich im OP-Saal? Hat mich an einen Slamtext erinnert, schön zackig vorgetragen.
PHILIPP Da gab es endlich Tempo! Der Arzt erzählt quasi das Drehbuch. Wechsel. Außen. Innen. Innen steht’s kritisch um Jan, außen amüsiert sich Bess mit fremden Männern. Beide Situationen werden überspitzt dargestellt, laufen auf ihren jeweiligen Höhepunkt zu. Innen versuchen sie Jan mit dem Elektroschocker wieder zu beleben, außen ist Bess mit diesem Mann auf der Wiese.
LEAH Tatsächlich lebt Jan weiter: Vielleicht hat Bess dazu beigetragen, zum Weiterleben. Indem sie mit dem anderen schläft und Jans Fantasien erfüllt. Der Arzt sagt natürlich, es sei sein medizinischer Verdienst. Hat mich irgendwie zum Lachen gebracht, diese rasanten Regieanweisungen.
PHILIPP Es war ein Bruch: Kurz kommt große Dynamik auf, die dann aber auch schnell wieder vorbei ist. Gegen Ende wird deutlich: Vorher war Jan die Blüte des Lebens, am Ende nur noch ein Häufchen Elend, am Schluss konnte er im Grunde gar nichts mehr. Was er genau hat, weiß man gar nicht, mal war die Rede von Wasser im Hirn. Der Arzt pfeffert einfach irgendwelche medizinisch anmutenden Begriffe um sich, am Ende kommt dann der „Ablativus Absolutus.“
LEAH Da sieht man mal wie viel der Herr Mediziner von seinen Begriffen versteht. Schöne Kritik an der Schulmedizin – Hauptsache dem Patienten Angst einflößen, sodass auch ja niemand nachfragt.
Prüfender Blick auf das Aufnahmegerät, ob denn die Aufzeichnungen noch laufen – und erschreckende Erkenntnis: mehr als eine Stunde Gesprächsstoff. Zeit für ein Fazit.
PHILIPP Ja, Fazit, hm, komplizierte Geschichte, nicht ganz so kompliziert auf die Bühne gebracht. Brav von vorne bis hinten erzählt.
LEAH Naja, von hinten anzufangen hätte sich jetzt auch nicht wirklich angeboten.
PHILIPP Konsequent rückwärts erzählen muss natürlich auch nicht sein. Wobei, eigentlich wäre es eine Möglichkeit: Man startet mit dem Schlussbild, lässt sie wieder zum Leben erwachen, sie steht aus der Blutlache auf und los geht’s…
In diesem Sinne: gute Nacht.
Text: Philipp Neudert und Leah Wewoda
Bilder: Conny Mirbach