Von Salome und anderen Sittenbrüchen – Klassik mal authentisch

„Ich bin wie so viele andere dieser Frau verfallen“, sagt Demis Volpi, Choreograph und Initiator des Balletts Salome. Das geht nicht nur ihm so. Im am vergangenen Freitag uraufgeführten Ballett geizt Salome keineswegs mit den Reizen.

Salome Chr: Demis Volpi Tänzer/dancers: Alicia Amatriain (Der Mond) (C) Stuttgarter Ballett
Salome
Chr: Demis Volpi
Tänzer/dancers: Alicia Amatriain (Der Mond)
(C) Stuttgarter Ballett

Im Schwarz der Nacht wiegt sich der Mond, Stufe für Stufe steigt er hinab, gehüllt in zarte Tücher. Der Mond als übergeordnete Instanz – so tritt er in Demis Volpis Salome in Erscheinung, ein Ballettstück nach dem gleichnamigen Einakter von Oscar Wilde, am vergangenen Freitag uraufgeführt am Stuttgarter Ballett. So sinnlich, wie der Anfang verspricht, bleibt es im Stückverlauf aber nicht. Wie auch, schließlich gilt es, die von ihrem Verlangen besessene Salome auf die Bühne zu bringen, der nichts mehr bedeutet, als den eingekerkerten Jochanaan ihr Eigen zu nennen. Dafür schreckt sie nicht vor Gräueltaten zurück: Sie fordert den Kopf des Jochanaan und versetzt damit den ganzen Hof in Angst und Schrecken.

Bereits der erste Auftritt der Salome lässt ahnen, womit es das Publikum zu tun bekommt. Tanzte eben noch Alicia Amatriain als Mond behutsam auf der spiegelglatten Treppe, sinnlich und wirkungsvoll, umgeben von gestreutem Licht, so ist diese Stimmung mit Auftritt der Salome passé. Neckisch spreizt sie die Beine gen Publikum, kecke Ponyfransen zieren als Elisa Badenes‘ Markenzeichen auch diesmal ihr Gesicht – nur ausnahmsweise mit Kurzhaarschnitt. Schnell wird klar: Diese Figur versteht es, ihren Wünschen Nachdruck zu verleihen, koste es, was es wolle. Von Anfang an findet Salome Gefallen an dem Gefangenen Jochanaan – doch von Anfang an ist klar: Dieser lehnt Salome ab. Was folgt, ist ein ewiges Hin und Her, Macht und nicht zuletzt Besitzspielchen. Langwierig ist ist diese Sequenz keineswegs: Der Bühnenraum wird bewusst genutzt und ausgetanzt; Elisa Badens und David Moore gelingt hervorragend der Spagat zwischen Tanz und Schauspiel.

Was folgt, ist im Vergleich zur Eingangssequenz ein unerwarteter Umschwung. Der Hof des Herodes und seiner Gattin Herodias mit all ihren Angestellten kommt zum Zug, wobei „Angestellte“ mit dem Wort Sexarbeiter ersetzt werden kann. Nach und nach baut sich ein absurdes Bild auf, das einem Exzess gleicht – in Korsage gekleidete Dienerinnen tigern unentwegt über die Bühne, tragen auf ihrem Turban eine Schale knallroter Äpfel, während sich im Hintergrund, um es nett zu formulieren, Männlein und Weiblein bespielen. Allen voran Herodias, die in blaugrauem Samt gekleidet von Männerscharen umgeben ist. Herodes tritt als querschnittsgelähmter Sympathiebolzen mit gestriegelten Haaren in bordeauxrotem Anzug auf, niedergelassen in seinem goldenen Rollstuhl. So schön die Farbkombination aus gold, bordeaux und graublau sein mag – letztendlich ist es ein Bild, das beim Zuschauer Unbehagen erzeugt. Unterstrichen von betörender Musik des Komponisten Tracy Silverman auf der E-Violine, der noch für vier der anstehenden Aufführungen selbst anwesend sein wird, ein bemerkenswertes Zusammenspiel von Tänzern und Musikern.

Salome Chr: Demis Volpi Tänzer/dancers: Elisa Badenes (Salome), Roman Novitzky (Herodes), Elena Bushuyeva (Sklavin), Anouk van der Weijde (Sklavin), Alicia Amatriain (Der Mond) (C) Stuttgarter Ballett
Salome
Chr: Demis Volpi
Tänzer/dancers: Elisa Badenes (Salome), Roman Novitzky (Herodes), Elena Bushuyeva (Sklavin), Anouk van der Weijde (Sklavin), Alicia Amatriain (Der Mond)
(C) Stuttgarter Ballett

Dass sich die erste Hälfte der Aufführung hinter einem Grauschleier abspielt, begreift die Audienz erst dann, als dieser fällt. Ab diesem Zeitpunkt offenbart sich Salome in vielerlei Hinsicht, nun macht sie kenntlich: Angedeutete Fantasien sollen in die Tat umgesetzt werden. Herodes hatte im Voraus versprochen, ihr jeden Wunsch zu erfüllen, solange sie ihm nur vortanze. Dieser „Tanz der sieben Schleier“ ist in der Regieanweisung nicht weiter ausformuliert. Wie Volpi ihn umsetzt, ist daher umso interessanter: Licht wird zum Instrument, sanfte Spots und zerstörerisches Flimmern wechseln sich ab. Salome scheint in einen Sog geraten zu sein, unaufhaltsam tanzt sie sich die Seele aus dem Leib. Und tatsächlich: Wie eingefordert, wird ihr der Kopf des Jochanaan in einer Silberschüssel serviert.

Für die Zuschauer geht dies sang- und klanglos über die Bühne, aber in Salome scheint es Lust zu entflammen, Lust, wie sie sie als Jungfrau nie zuvor gespürt hatte. Zunächst behutsam nähert sie sich dem Haupt, bis sie mit einem Mal von ihren Fantasien und Reizen überkommen scheint. Sie ergötzt sich am Anblick des leblosen Schädels, salbt ihren Körper mit Blut des Jochanaan. Nun gibt es kein Halten mehr, das Spiel gerät völlig aus den Fugen, provoziert, wo es nur kann und man meint, der Finger würde noch einmal absichtlich in die Wunde gelegt. Damit einher geht der Bruch aller Sitten, bis Salome sich entblößt. Aus keckem Mädchen wurde nicht etwa eine mehr oder minder gesittete Herodias 2.0, nein, vielmehr ist es eine nie da gewesene Bestie, die von Herodes mit den Worten „tötet dieses Weib“ entlassen wird. Ob ein derartiges Entgleisen gegen Ende wirklich nötig gewesen wäre , ist fragwürdig. Denn etwas zäh wird es, wenn Salome wieder und wieder Blut leckt und den Kopf des Jochanaan zum Spielzeug werden lässt.

Ein Ballett, das gespaltene Gemüter hinterlässt und stellenweise für Unmut in den Zuschauerriegen sorgt – mit Sicherheit aber ein Stück, das seinesgleichen in der Ballettwelt sucht. Klassik mal authentisch.

Text: Georgi Golubev und Leah Wewoda

Bilder: Stuttgarter Ballett