CHELSEA HOTEL – LIEBE machen, MUSIK machen, KUNST machen oder »All Tomorrows Parties«

Kammertheater – Staatsschauspiel Stuttgart 27. September 2016

Eine stygische Atmosphäre, dicke Nebelschwaden wabern über das Parkett der Bühne, ein glitzernder Vorhang gleich den unendlichen Weiten des Äthers. Ein Mann tritt aus den Rängen der Spektatoren, suchend auf der Suche nach dem Sinn der irdischen Existenz. Wie schon die Protagonisten in Georges Méliés »Le Voyage dans la Lune«, taucht der entwurzelte Kosmonaut und gleichsam das anwesende Publikum in eine andersartige Sphäre – das Chelsea Hotel, einen Ort der Grenzüberschreitung – ein.

Schon der französische Sozialphilosoph Charles Fourier befasste sich immens mit der Kategorisierung diverser Menschentypen und deren spezifischen Fertigkeiten. In ihrer Summe schaffen die distinguierten Individuen eine enorme Mannigfaltigkeit, leisten dennoch gleichermaßen ihren relevanten gesellschaftlichen Beitrag und bilden das Fundament eines pluralistischen Systems.

Eine Boheme, die ihre Ursprünge in der frühen Moderne hat – man denke an lyrische Größen wie Charles Baudelaire oder Arthur Rimbaud – die freie Liebe propagiert und teilweise mittels psychoaktiven Substanzen die Utopie einer scheinbaren Bewusstseinserweiterung beschwört. Nico, Andy Warhol, Jim ›Iggy Pop‹ Osterberg, Bob Dylan, John Cale, Salvador Dali, Lou Reed, Man Ray sind ein Teil der heiteren Gesellschaft dieses »zweifelhaften Etablissements«. Die Pforten der Wahrnehmung öffnen sich.

chelseahotel85

»Chelsea Hotel« ist ein musikalisches Erlebnis mit Motiven aus Sam Shepards »Cowboy Mouth« und weiteren thematisch affinen lyrischen, dramatischen und prosaistischen Werken der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Regisseur Sébastien Jacobi kreiert ein Gesamtkunstwerk im Stile eines Konzeptalbums, eine Symbiose zwischen Schauspiel, Musik und stimmungsvollen Effekten. Dichtes Theater mit erkennbaren Spannungsbogen und dynamischen Übergängen.

Initiatorin dieses Trips ist die überaus talentierte Schauspielerin und Sängerin Hanna Plaß. Sie überzeugt mit ihrer ballenden Stimmgewalt, ihrer hinreißenden Ausstrahlung und energiegeladenen Spielfreude.

Ferner ist Elmar Roloff hervorzuheben. Er besitzt ein einzigartiges Charisma und zeigt die Diversität der menschlichen Individuen in einer exzellenten Darbietung. Dieser mimt unteranderem einen melancholischen alten Niemand in bewegender Art und Weise und begeistert mit der paradoxen Interpretation des Songs »Dirt« von den »Stooges«. Hierbei fusioniert er die sonst antithetischen Attribute der Rationalität und des Pathos. Neben den eingangs erwähnten explorierenden Aventurier, der in das Enigma des Chelsea Hotels Licht bringt, figuriert Manuel Harder einen entmannten virtuosen Hummermann als antagonistischen Pierrot (»Space Clown«).

Birgit Unterweger verkörpert glaubwürdig ein exzentrisches, manisch-depressives »Chelsea Girl«. Mit körperbetonenden Bewegungen, schriller Stimme und bewusst übertriebenen Spiel balanciert sie gekonnt zwischen aufdringlichen Cäsarenwahn und einem zerbrochenen Häufchen Elend.

Als dritte weibliche Darstellerin im Bunde agiert Marietta Meguid und kann nahtlos an die Leistungen ihrer Mitspieler anknüpfen. Sie leitet gekonnt von ruhigen in impulsive Momente über und bei ihrer Gesangspassage in »All Tomorrows Parties« geht jedem »Velvet-Underground«-Fan das Herz auf. Das grandios aufspielende Bandtrio (Max Braun, Joscha Glass, Johann Polzer) überzeugt mit starken Arrangements (Hanna Plaß und Max Braun) und verleiht jedem Song einen spezifischen, neuartigen Charakter. Unterstützung erhalten die Musiker durch Plaßs Einlagen am Piano.

Als einer der musikalischen Höhepunkte bleibt einem der Song »Chelsea Girls« in Erinnerung. Das detailgetreue, liebevoll gestaltete Bühnenbild von Julian Marbach bietet zahlreiche Spielmöglichkeiten und Blickfänge. Die artifiziellen Kostüme von Cinzia Fassati erinnern an den Dandy-Stil und harmonieren hervorragend mit der Szenerie. Jacobi schafft mit der Einbeziehung visueller Filmeinspielungen eine zusätzliche Dimension der Wahrnehmung. Die Gestaltung der Videos erinnert an psychedelische Musikclips – wie beispielsweise die der »Boston Tea Pary« – und bildet eine Hommage an die künstlerischen Bohemiens und deren Exzesse.

Die packende 100-minütige (ohne Pause) Inszenierung und die großartige Esembleleistung wird mit minutenlangen Beifallsstürmen honoriert – die Band gibt eine ergreifende akustische Zugabe zum Besten.

chelseahotel106

 

Text: Tobias Frühauf und Philipp Wolpert

Bildrechte: Bettina Stöß