Iphigenie auf Tauris

Wasser, soweit das Auge reicht. Ein knöcheltiefes Planschbecken füllt den Bühnenraum im Forum Theater, Stuttgart Stadtmitte. Ein bisschen riecht es wie im Hallenbad. Iphigenie, gehüllt in zartes Weiß, das sie jungfräulich und unschuldig wirken lässt, watet unentwegt von A nach B, von der einen Ecke in die andere. Währenddessen erhält das Publikum eine Einführung in die griechische Mythologie, einen Überblick über die Zusammenhänge im Umfeld um Agamemnon, Elektra, Orest und Iphigenie. Gesprochen in ein Mikrofon, das von der Decke hängt und im Verlauf des Stücks immer wieder mal live, mal gelooped zum Einsatz kommt.  Goethe sieht in seiner Textvorlage von „Iphigenie auf Tauris“ zwar von einer Expostition im klassischen Sinne ab; setzt Grundkenntnisse der griechischen Mythologie voraus – Regisseur Dieter Nelle erkennt aber zum Glück die Notwendigkeit, denn dass jeder Theaterbesucher Vorwissen zur griechischen Mythologie mitbringt, ist (heute) nicht selbstverständlich.

Foto: sabine HaymannMit Beginn des ersten Aufzugs ist es dunkel, einzig ein Spot ist auf Iphigenie gerichtet. Mithilfe dieses Licht- und Schattenspiels gelingt es erstaunlich gut, die Abgeschiedenheit, die Iphigenie plagt, zu verdeutlichen. Eine scharfe Lichtkante hält sie hier gefangen, auf Tauris, wo sie sich doch so sehr zurück nach Griechenland sehnt. Der Einstiegsmonolog von Iphigenie klingt vielversprechend, auch wenn Britta Scheerer von Anfang  an Schwierigkeiten hat, sich dem ungewohnten Sprechmetrum zu nähern, der „Iphigenie in Jamben geschrieben“, wie sie Schriftsteller Wieland bezeichnet, wird sie nicht gerecht.

Die Thematik, die Goethes Iphigenie auf Tauris zugrunde liegt, ist aktueller denn je: Es geht um das Bedürfnis nach Heimat, um Flucht und Fluchtgeschichten. Ob die Fremde zum Vaterland werden könne, fragt sich Iphigenie – daraufhin entgegnet Arkas, „des Königs Bote“: „Dir ist fremd das Vaterland geworden.“ Ein Schlüsselsatz, der sich auf die heutige Lage übertragen lässt – wer sich nirgends zugehörig fühlt, für den bleibt Fremde nicht Übergang, sondern wird zum Normalzustand. Und das macht Iphigenie zu schaffen.

Sie vertraut sich Arkas an, gespielt von Schirin Brendel, der es mit Gestik und Mimik ausgezeichnet gelingt, eine Hierarchie aufzubauen: Unterschwellig wird dem Zuschauer Überlegenheit seitens Arkas vermittelt; niemals bösartig, sondern viel eher wissend. Unterstrichen durch das Kostümbild – sie weiß gekleidet, er in einem schwarzen Hosenanzug – ein gelungenes Beispiel von Vermittlung des Subtextes ohne zu offensichtliche Gesten.

Foto:Sabine HaymannDer Grund aus Wasser, das Bühnenbild, wird im Folgenden umfassend bespielt. Im richtigen Moment liegt das Wasser still, beispielsweise dann, wenn Iphigenie in einem Monolog versucht herauszufinden, was sie tun kann, um die Flüchtlinge, Orest und Pylades, zu schützen. Als der zornige Thoas,  König der Taurier, bespielt Udo Rau hervorragend das Wasser, als er Rosen köpft, die zuvor noch zum Heiratsantrag dienten und sie ins Wasser schmettert. Zorn und gleichzeitig Traurigkeit werden so deutlich. Doch auch Freude und Erleichterung kommen nicht zu kurz: Dann, als sich Iphigenie und Orest als Schwester und Bruder erkennen und wild umherspringen, dass das Wasser nur so spritzt.

Wie Arkas und Iphigenie, so ergänzen sich auch Orest und Pylades – Michael Ransburg und Martin König – gut als Spielpartner, präsentieren sich liebenswürdig. Im Wesentlichen sind sie gegensätzlich; Pylades ist hoffnungsvoll, während Orest Lebensmüdigkeit plagt. Jedenfalls zu Beginn. Denn Orest gibt sich auf der Bühne wie auch in der Textvorlage unberechenbar: Mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt, um Goethes Wortlaut aufzugreifen. Und das gelingt Michael Ransburg, ohne übertrieben komisch zu wirken.

Auch wenn die Sprachmelodie, der Rhythmus, mit dem Goethes Text besticht, in Dieter Nelles Inszenierung stellenweise verloren geht – die Kombination aus Wasser als vielseitiges Requisit und dem Treiben auf der Bühne ist durchaus gelungen. Bei zwei Stunden stellt sich die Frage, ob eine Pause angebracht ist, denn langatmig wird es gegen Ende – wobei eine Pause sicherlich den Wiedereinstieg ins Geschehen erschweren würde. Bleibt nur zu hoffen, dass sich die Schauspieler im gefühlt 14 Grad Celsius kalten Wasser nicht verkühlen – oder wie eine Zuschauerin treffend formuliert: „Hoffentlich haben die vorher alle genug Vitamine bekommen.“

Text: Leah Wewoda

Bilder: Forum Theater Stuttgart