Bilder deiner großen Liebe

Isa, das Mädchen von der Müllkippe. So kennt man diese sonderbare Figur aus dem Roman „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf, in dem sie beiläufig auftaucht, doch durch ihr Wesen einen bleibenden Eindruck hinterlässt. So bleibend, dass Wolfgang Herrndorf Isa mit „Bilder deiner großen Liebe“ einen eigenen Roman widmet. Eine Collage aus skizzenartig zusammengefügten Lebensfetzen – in einer Inszenierung von Jan Gehler im NORD in Stuttgart auf die Bühne gebracht.

Älterwerden ist nicht gleich Erwachsenwerden. Gegen das Älterwerden kann man nichts tun, gegen das Erwachsenwerden schon – das lehrt uns Isa. In Scherben ist sie getreten, hat sich das Blut mit Fanta von den Füßen gewaschen. Infektionsgefahr würde der Erwachsenenverstand sagen; Hauptsache Blut weg sagt Isa. Dass Knöchelknirschen bei einer Sturzlandung ernst zu nehmen ist würde der Erwachsenenverstand sagen; „nicht so schlimm“, sagt Isa. Isa, und das setzt Lea Ruckpaul ausgezeichnet um, ist standhaft. Lässt sich ihre Kindlichkeit nicht nehmen, auch nicht von Menschen, die genau das beabsichtigen, wie beispielsweise die „Atomkrafttante“. Tritt dem Leben unbeschwert gegenüber, stellt Fragen. Deren Antworten sie jedoch zögern lassen – und sie zu dem Schluss bringen, Verrücktsein ist eine unendliche Gedankenspirale. Viel wichtiger: Verrücktsein kommt und geht.

Mit Lea Ruckpaul als Isa und Wolfgang Michalek, der sämtliche Männerrollen im Stück übernimmt, eine bemerkenswerte Konstellation. Michalek tut gut daran, den Figuren bildlich gesprochen dasselbe Paar Schuhe in einer anderen Farbe anzuziehen. Oder, wie er selbst es formuliert: Die Figuren stammen aus einem Kosmos. Denselben Grundton stimmen die Atomkrafttante und der Rasenmähende, der Bootsmann und Tschick an; stehen aber doch für sich selbst. Der aufmerksame Zuschauer stellt fest: Hier wurde ganze Rollenarbeit geleistet. Michalek gelingt hervorragend der Umschwung vom gezeichneten Bootsführer zum jugendlich-unbeholfenen Tschick, der seinen ersten Zungenkuss bestehend aus Kaugummi und Spuckefäden auf der Müllkippe mit Isa verbringt und es „voll schön hier mit dir“ findet.

Lea Ruckpaul interpretiert die Rolle der Isa auf eine Art, die ihr hoch anzurechnen ist: Geprägt durch Achtung vor dem Originaltext. Oft großkotzig, stets intelligent, stets auf der Hut vor dem Abgrund, der an ihr zerrt, am meisten aber auf der Hut vor sich selbst und ihrer „dunklen Welt“, die sie manchmal überkommt. Denn auch wenn Isa augenscheinlich naiv-unbeschwert wirkt und handelt, so verbirgt sich hinter diesem Mädchen doch ein tief trauriges Mädchen, das ihrem Alter weit voraus ist. Das suggeriert Lea Ruckpaul mit ihrer Spielweise – und bewegt.

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Einige Parallelen zum Autor Wolfgang Herrndorf blitzen in „Bilder deiner großen Liebe“, insbesondere in der Figur der Isa, auf. Nicht umsonst wird der Roman oft als letztes Porträt seiner selbst bewertet. Vor diesem Hintergrund scheint es umso passender, dass dieses Theaterstück emotionsmäßig alles bietet, man gar übermannt wird – Bilder wie sie das Leben zeichnet. Die das Leben auszeichnen. Und mit einem Aufatmen entlassen.

Text: Leah Wewoda

Bildrechte: Schauspiel NORD Stuttgart/Conny Mirbach