FAUST – Castorfs Debüt an der Staatsoper Stuttgart

Premiere, 30.10.2016

Staatsoper Stuttgart

Ein Gespenst geht um im Stuttgarter Opernhaus – das Gespenst Frank Castorfs. In jenen sakralen Hallen, die 2016 durch die »Opernwelt« zum »Opernhaus des Jahres« gekürt wurden, gibt die kontroverse Theatergröße ihr Debüt.

Auf dem Spielplan steht mit »FAUST« wohl Charles Gounods bedeutendstes Werk. Das Libretto von Jules Barbier und Michel Carré orientiert sich zweifelsohne an Goethes gleichnamigen Klassiker der Weltliteratur. Im Vordergrund steht hierbei mit Dr. Faust allerdings nicht der gescheiterte Wissenschaftler, der auf der Suche nach der Weltformel zerbricht, sondern ein distinguierender Protagonist, der vom Leben und der Liebe enttäuscht, auf der Suche nach den Jungbrunnen, den Luzifer beschwört. Prompt erscheint Mephistopheles und offeriert diesem ein Leben in Prunk, Reichtum und Macht. Diese Verheißungen können Dr. Faust nicht locken, ihm verlangt es lediglich nach Jugend, sinnlicher Liebe und Hingabe.

Paris. Eine Straße, ein verschachtelter Gebäudekomplex. Die Brut des Teufels, die Gargylen Notre-Dams, werfen ihre Schatten auf den Asphalt. Ein schickes Straßencafé inmitten der pulsierenden Ader der französischen Metropole. Stalingrad, eine Station der Metro, Knotenpunkt und Ort des Aufbruchs. Mephistos magischer Horrorladen, das Höllentor, die
Python im Schaufenster gleicht dem Zerberus. Ebenjenes Reptil taucht auch permanent an elementaren Passagen des Stückes auf – schlängelnd umgarnt es die Protagonisten. Ein Damoklesschwert, der biblische Sündenfall, die Schlange, der allgegenwärtige, verführerische Adjutant des Satans. Ein Kabinett der Obskurität – Voodoo-Zauber, Schamanenkult und Teufelswerkzeug.

Das Bühnenbild (Aleksandar Denić) fusioniert mit viel Liebe zum Detail zahlreiche architektonische Koryphäen der Stadt. Die einzelnen Bauwerke ergeben in der Summe eine gesamte harmonische Einheit der Verschiedenheit. Das Rondell ermöglicht verschiedene Einblicke in das urbane Leben. An diese gestalterische Leistung kann Adriana Braga Peretzki nahtlos mit ihren gelungenen Kostümen anknüpfen.

Kapitalismuskritik – das typische Castorfsche Leitmotiv bestimmt auch diese Inszenierung. Die Oper entstand im 19. Jahrhundert, in ebenjener Zeit als sich Frankreich drastisch wandelte. Die blutigen Revolutionen auf französischen Boden entpuppen die Hoffnungen auf eine freiheitlich-demokratische Ordnung als Luftschloss. Es kommt ausgerechnet in der Nation, die die Bastille erstürmt hat, zur Entpolitisierung. Ein neues Götzenbild wird von der erstarkten Klasse der Bourgeois in Gold gegossen, das goldene Kalb, der neue Baal – Luxus und Konsum. Die Massen werden ruhiggestellt, Opium für das Volk, doch der Klassenunterschied bleibt erhalten.

Ein Plakat auf der maroden Bretterwand, ein Nilkrokodil, gebändigt durch eine Colaflasche. Ein weiteres eminentes Sujet ist der Imperialismus. Kriegsbegeisterte Patrioten verlassen über den Eingang der Metrostation die heimischen Gefilde um Ruhm und Ehre in der Schlacht zu erlangen. Der Algerienkrieg mitsamt seinen drastischen Folgen chiffriert kritisch den Export der westlichen Leitkultur, die Unterwerfung und Identitätsberaubung. Diese Interventionen erhalten eine lyrische Stimme, wenn die Solisten die Texte Rimbauds rezitieren. Doch die Inszenierung ist weit mehr als ein Politdrama, ebenso werden Mystik, unerfüllte Liebe, zwischenmenschliche Interaktionen und die sich daraus ergebenden Fallhöhen der Protagonisten intensiv behandelt. Die Beziehung zwischen den beiden Dichtern Rimbaud und Verlaine erhält ebenso Raum und wird abstrakt durch Margarethe und Siebel versinnbildlicht, der durch eine Frau gespielt wird.

Die Inszenierung ist historisch, gegenwärtig, visionär und eine positiv zu betrachtende Reizüberflutung. Durch extern gedrehte Videoeinspielungen sowie des Livemitschnitts des Bühnengeschehens (Videoregie: Martin Andersson) werden relevante Handlungsstränge erzählt. Ferner kommen somit nicht nur die üblichen großen Operngesten zur Wirkung, sondern auch kleine emotionale Mimen.

Faust von Charles Gounod in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln 30. Oktober 2016 Musikalische Leitung: Marc Soustrot Regie: Frank Castorf Bühne: Aleksandar Denić Kostüme: Adriana Braga Peretzki Licht: Lothar Baumgarte Videoregie: Martin Andersson Chor: Johannes Knecht Dramaturgie: Ann-Christine Mecke Auf dem Bild: Iris Vermillion (Marthe ), Adam Palka (Mephistopheles), Mandy Fredrich (Margarethe), Atalla Ayan (Faust) Foto: Thomas Aurin
Faust
von Charles Gounod
Foto: Thomas Aurin

Die Musik von Charles Gounod strotzt vor französischer Leichtigkeit und wird exzellent vom Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Marc Soustrot umgesetzt. In den für die Oper so bedeutenden Chorpassagen überzeugt der Staatsopernchor Stuttgart (Leitung Johannes Knecht) und tritt in den Volks- und Soldatenszenen sowie der Walpurgisnacht auf.

Der polnische Bass Adam Palka ist ein exotischer Mephistopheles und glänzt sängerisch und schauspielerisch. Mit düsterem Charisma und verführerischem Charme schlägt einen Spagat zwischen feurigen, vampiresken Trieben und kalter, präziser Klarheit. Sein Mimenspiel ist eigenartig, maliziös und hier und da delphisch-unberechenbar. Es ist unmöglich sich diesem Mephisto zu entziehen und ihm nicht auch zu verfallen. Die kräftige Stimme von Atalla Ayan glänzt mit einem betörenden, italienischen Timbre, wie gemacht für Gounods Kompositionen und die Rolle des namensgebenden Titelhelden. Die Sopranistin Mandy Fredrich singt die weibliche Hautprotagonistin sicher in allen Registern. Weiterhin gilt es Gezim Myshketa als Valentin hervorzuheben, der mit seinem satten Bariton sowie viel Gefühl und Leidenschaft in der Stimme überzeugen kann. Josy Santos (Siebel), Iris Vermillion (Marthe) und Michael Nagl (Wagner) sind die weiteren drei Solisten, die sich mit starken Leistungen in die bahnbrecherische Gesamtleistung eingegliedert haben.

Frank Castorfs Inszenierung des »FAUST« ist eine einzigartige Symbiose zwischen inszenatorischen Schauspielelementen und Musiktheater. Eine stimmige Komposition, ein Hörgenuss, ein Rausch der Sinne, den das Publikum mit schallenden Applaus und zahlreichen Bravo-Rufen feiert.

Faust von Charles Gounod in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln 30. Oktober 2016 Musikalische Leitung: Marc Soustrot Regie: Frank Castorf Bühne: Aleksandar Denić Kostüme: Adriana Braga Peretzki Licht: Lothar Baumgarte Videoregie: Martin Andersson Chor: Johannes Knecht Dramaturgie: Ann-Christine Mecke Auf dem Bild: Atalla Ayan (Faust), Mandy Fredrich (Margarethe) Foto: Thomas Aurin
Faust
von Charles Gounod
Foto: Thomas Aurin

 

Text: Tobias Frühauf und Philipp Wolpert

Bildrechte: Thomas Aurin