Eine Reise durch die Zeit – champagnertrunken und nachdenklich

Ein Tanz auf dem Vulkan am 17.12.16 im Alten Schauspielhaus Stuttgart

In etwa drei Jahren werden wir erneut die 20er Jahre einläuten. Fast 100 Jahre sind sie nun schon her, die Golden 20s – aber wie golden waren sie wirklich? Und wie sehr unterscheidet sich diese Epoche von unserer Zeit heute?

Ein Tanz auf dem Vulkan, eine Revue von Manfred Langner und Horst Maria Merz, entführt seine Zuschauer in das Stuttgart der 1920er Jahre: Episodenhaft werden Anekdoten zum Besten gegeben, die mit Witz Lokalgeschichte erzählen und immer wieder alten Bekannten – liebgewonnenen wie auch weniger beliebten – eine Bühne geben. Eingebettet ist das Ganze in eine Rahmenerzählung, die im Jahr 2019 spielt. Zukunft und Vergangenheit liegen hier nah beieinander.

Zum Inhalt: Eine Theatergruppe probt im Alten Schauspielhaus anlässlich der Silvesterfeier im Jahr 2019 eine Revue über Stuttgart in den 1920ern. Die Probe wird unterbrochen. Herr Lechler von der Bundeskulturkammer kommt herein, denn er hat der Generalprobe beizuwohnen, um diese „abzunehmen“. Dass Herr Lechler schwer zufriedenzustellen sein wird, ist schnell klar. Er holt eine Deutschlandfahne hervor und betont: „In diesem Theater spricht nunmehr die Stimme des Volkes.“ Die Schauspieler fahren fort und teilen mit dem Publikum kleine Geschichten über Stuttgart in den Zwanzigern. Die Szenen hängen kaum zusammen und es gibt eigentlich nur zwei Figuren, die häufigere Auftritte haben: den ehemalige Direktor des Alten Schauspielhauses Claudius Kraushaar und den Kellner Franz des Hotels Marquardt, das heute die Komödie im Marquardt ist. Theodor Reichardt und Harald Pilar von Pilchau in Ein Tanz auf dem Vulkan So wird Stuttgarts Geschichte, aber auch die Geschichte Deutschlands direkt mit jenem Saal verbunden, in dem sich die Zuschauer gerade befinden. Ob Stuttgarter oder nicht: Was da auf der Bühne passiert, hat mit jedem einzelnen im Auditorium zu tun. Der Zuschauer erlebt, wie unbeständig diese Zeit war, er erlebt Hoffnung, Elend und stetigen Wandel.

Untermalt wird das Ganze von Musik der Zeit. Viele bekannte Stücke sind dabei – mitunter muss man sich im Publikum das laute Mitsingen direkt verkneifen – aber auch einige weniger bekannte Songs. Bei der Frage nach der Musikauswahl sagten Langner und Merz im Publikumsgespräch nach der Aufführung, dass ihnen vor allem die politischen Songs wichtig waren. Natürlich hatten sie bereits bei der Konzeption einige Stücke direkt im Kopf, die auch ihren Weg in die Endfassung der Revue fanden. Worüber sie sich aber vor allem freuten, waren die verborgenen Schätze, die sie heben konnten, wie beispielsweise „Das lila Lied“, ein Schlager der sich mit Homosexualität auseinandersetzt. Trotzdem haben auch die Gassenhauer ihren verdienten Platz in der Revue, wobei das Autorenduo es elegant geschafft hat, totgespielte Stücke zu vermeiden. So ist die Musik im Stück abwechslungsreich und regt gleichermaßen zum Mitsummen, und Nachdenken an. Jeder Zuschauer verlässt den Saal mit mindestens einem Ohrwurm: Am Ende des zweiten Aktes wird sowohl „Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da“ wie auch „Es ist so schön am Abend bummeln zu geh’n“ gegeben.

Das Ensemble von Ein Tanz auf dem VulkanGespielt wird die Musik live auf der Bühne von „Horst Popocatépetl & seinen Swinging Vulcanos“, mit Horst Maria Merz als Bandleader, am Klavier und als Sänger. Gesungen werden die Stücke teils vom gesamten Ensemble, teils als Soli oder Duette. Schön ist, dass keiner der Darstellerinnen und Darsteller ein übermäßiges Belting (eine Gesangstechnik, bei der hohe Töne so lange wie möglich mit Bruststimme gesungen werden) mit in die gesangliche Darbietung einbringt, wie es in aktuellen Musicalproduktionen meist der Fall ist (wo es absolut seinen Platz hat). Sie versuchen auch nicht die Songs in operettenhafter Manier zu präsentieren. Dadurch haben alle Lieder einen klaren Klang, was sie nicht nur verständlich macht, sondern auch gut zum Charakter der Musik der damaligen Zeit passt, ohne den Versuch die Sänger und Sängerinnen von damals mit aller Gewalt zu kopieren.

In der Choreographie werden die Musikstücke von Alina Bier interpretiert, die selbst Mitglied des Ensembles ist und in diesem Stück ihr Choreographie-Debut gibt. Die einzelnen Nummern reichten vom Stepptanz-Solo über Tangoeinlagen bis hin zu ganzen Ensemblenummern. Besonders eindrucksvoll war die Choreographie zu „Keine Zeit“ im ersten Akt: Die Thematik des Songs wurde direkt in die Bewegungen umgesetzt, die mechanisch und automatisiert wirkten. Obwohl diese Choreographie einfach gehalten war, war sie dennoch imposant – man schaute einfach gerne zu, bei dieser, wie auch bei allen anderen Tanznummern.Antje Rietz und Theodor Reichhardt in Ein Tanz auf dem Vulkan

Eingängige Musik, starke Sänger, interessante Choreographien – das alles kann eine Revue, das alles kann diese Revue. Aber, diese Revue kann noch viel mehr. Es wird nicht nur mit Hilfe eingängiger Melodien ein Portrait einer Zeit zu gezeichnet, die längt vergangen ist. Die Rahmenhandlung mit Herrn Lechler vom Amt, der mit Unterbrechungen, Zwischenrufen und Appellen den Schauspielern die Probe und das Leben schwer macht, zeigt deutlich, den ernsten Kern des Stückes. In der Rahmenhandlung wird ganz klar verhandelt, wie sehr sich unsere Zeit heute der Zeit damals ähnelt. Da es nur wenige krasse Gegenüberstellungen von jeweils zeitgemäßen Charakteristika gibt, ist dieses Thema nicht zu plakativ dargestellt. Das erscheint wohl durchdacht, denn durch die Platzierung der Rahmenerzählung in unserer Zukunft. scheint sie einen Ausblick geben zu wollen, wie es werden kann, aber nicht wie es werden muss. Gleichzeitig zeigen die Erzählungen der Vergangenheit, dass wir mehr mit den Menschen in den 1920ern zu tun haben, als wir vielleicht meinen – und das nicht nur, weil auch damals Stuttgart einen neuen Bahnhof bekommen hat. Die Darstellung der Vergangenheit verkommt in keinem Moment des Stücks zu purer Nostalgie: Die dunklen Seiten der Zwischenkriegszeit, das Schicksal der Kriegsversehrten, die Hyperinflation und ihre Folgen, werden ebenso angesprochen, wie der wissenschaftliche und wirtschaftliche Fortschritt, den diese Zeit ebenfalls geprägt hat.

Dass das alles so gut wirken kann, ist vor allem dem Ensemble geschuldet. Das Ensemble arbeitet auf der Bühne sehr gut zusammen. Es entsteht eine intime Kommunikation zwischen den Darstellern und den Zuschauern.Antje Rietz in Ein Tanz auf dem Vulkan Das ist auch Antje Rietz zu verdanken, die ab und an den Part einer Erzählerin übernimmt. Das macht sie sehr charmant, mit viel Witz in der Stimme und einer spannenden Mimik. In ihrem Gesicht passiert unglaublich viel, was ihre Figur nahbar macht und die direkte Publikums-Kommunikation nicht auf rein verbale Wege beschränkt. Ihre Kollegen begeistern ihr Publikum aber nicht minder. Amelie Sturm, die insgesamt 17 Kostümwechsel und 4 Perücken während des Stückes zu bewerkstelligen hat, scheint in jeder Szene jemand anderes zu sein – jedes Mal glaubwürdig und immer mit der selben Energie, häufig auch in lupenreinem Schwäbisch. Alina Bier, die wie bereits erwähnt für die Choreographie zuständig war, überzeugt tänzerisch wie gesanglich. Harald Pilar von Pichlau und Theodor Reichardt, die unter anderem Herrn Kraushaar und den Kellner spielen, können durch das vermehrte auftreten ihrer Figuren die Zeitgeschichte auf ganz individuelle Weise darstellen, was einen zusätzlichen und nötigen Einblick gibt. Mario Mariano spielt Jerôme, den größten Dorn im Auge Lechlers. Seine gesangliche wie spielerische Präsenz unterstreichen den Kontrast zwischen dem treudeutschen Lechler und dem ausländischen Schauspieler, der in dieser Gegenüberstellung ganz klar der Sympathieträger ist. Franz Voß gibt den Unsympath Lechler. Als Gegenpol und Gegenspieler zu den anderen Figuren kann er eine starke Spannung aufbauen. Besonders beeindruckend ist eine Szene, in der die Schauspieler – deprimiert von Lechlers Besuch – hinter der Bühne sitzen und trinken und beratschlagen, was zu tun sei. Dämonenhaft taucht Lechler auf einer Ebene über ihnen im Dunkel auf. Beeindruckend ist auch sein Zusammenspiel mit Gideon Rapp, der sowohl in der Rahmenhandlung, wie auch in der inneren Handlung im Verlauf der Revue bricht und die Seiten wechselt. Damit ist er der einzige mit einer prägnanten Charakterentwicklung, die er in beiden Erzählebenen glaubhaft vermitteln kann.

Was von der Performance bleibt wenn man den Saal verlässt ist mehr als nur ein Ohrwurm. Es ist auch mehr als nur ein paar neue Fakten über Stuttgart. Die Revue regt zum Nachdenken an – und das nicht nur für ein paar Stunden nach dem der Vorhang gefallen ist. Diese Revue bleibt einem tagelang im Kopf, sowohl die heiteren Facetten, wie auch die glasklare Botschaft. „Unterhaltung braucht Haltung“ sagte Langner im Publikumsgespräch. Beides verbindet Ein Tanz auf dem Vulkan gekonnt. Das Stück ist weder zu schwer, so dass man mit gesenktem Kopf und trüben Gedanken aus dem Theater läuft, noch so leicht, dass die Botschaft verwässert würde. Und das macht zumindest Hoffnung für die Zukunft des Musiktheaters, denn Merz und Langner ist es hier gelungen, dem Genre Revue endlich das nötige Vertrauen zu geben, das es verdient: Revue kann Missstände aufzeigen, Revue kann zum Denken anregen, Revue kann Ernsthaftigkeit vertragen, ohne von der Leichtigkeit absehen zu müssen. Diese Produktion bietet nicht nur Unterhaltung, sondern erfüllt auch hohen Anspruch – und davon brauchen wir unbedingt viel mehr!

 

Ein Tanz auf dem Vulkan läuft noch bis zum 4. Februar 2017 im Alten Schauspielhaus. Tickets und weitere Informationen unter schauspielbuehnen.de
Für weitere Informationen zum Hintergrund sowie zur Geschichte Stuttgarts empfiehlt sich das Programmheft zum Stück, erhältlich im Theater.

Text: Amina Gall
Fotos: Sabine Haymann