Lulu – Eine Monstretragödie

Lulu hat die Männer im Griff. Zumindest dem ersten Anschein nach. Sie entscheidet, wem sie sich hingibt, ebenso entscheidet sie, wen sie abweist. Und die Männer? Verfallen ihr, gleich einer Welle der Lust durchzuckt es die jungen Triebe, die auf Lulus Impulse reagieren. Die Anordnung der Tänzer wie aufgestellte Dominosteine löst sich schnell auf, sie lassen sich umher wirbeln, in und aus dem Boden scheuchen. Beeindruckende Sequenzen aus Christian Spucks Handlungsballett nach Frank Wedekind am Stuttgarter Ballett. Nach der Premiere 2003 ist es auf die Bühne des Opernhauses zurückgekehrt – in der Spielzeit 2017/18 eine zweite Premiere, sozusagen.

Dem Entwicklungsverlauf der Figur Lulu kann der Zuschauer per Übertragung auf Leinwand folgen. Räkelt sich Alicia Amatriain anfangs noch verschmitzt vor der Kamera, so wird der Bildschirm kurz vor Ende zeigen, wie eine salzige Träne ihre Wange hinunter rinnt. Die Videoebene auf der Ballettbühne ist wohl Geschmackssache. Fest  steht aber, dass sich der Einsatz von Video inhaltlich begründet – und dem Zuschauer die Abgründe dieser Frauenfigur per Nahaufnahmen häppchenweise serviert.

Lulu hat die Männer im Griff, Lulu hat die Frauen im Griff. Besonders eine, die Gräfin Geschwitz. Ist das die Liebe, nach der sich Lulu sehnt, die sie nie zulassen konnte? Aus der Annäherung der beiden Frauen, Lulu (Alicia Amatriain) und Gräfin Geschwitz (Anna Osadcenko), ergibt sich ein anrührendes Pas de Deux. Zuweilen innig umschlungen, andere Male auf Abstand – man vermutet zwei Magnetkugeln, deren Kraft der Umarmung sich jeden Moment in Abstoßung umformulieren lässt. Unterstrichen durch den farblichen Kontrast von schwarz und weiß. Emma Ryott beweist mit ihren Kostümen Gespür dafür, die Beziehungskonstellationen in Schnitt und Farbwahl ersichtlich zu machen. Das mädchenhafte und unbeschmutzte, weiße Kleid der Lulu, im Gegensatz dazu das frauliche und geheimnisvolle, schwarze Gewand der Gräfin, stehen nur exemplarisch für ein umfassend in Szene gesetztes Ensemble.

Dass unbeschmutztes Weiß nicht ewig währt, das muss Lulu am eigenen Leib erleben. Denn, so viel sei gesagt, Jack the Ripper macht vor ihr nicht Halt. Um die Spannung zu wahren: Die salzige Träne, die ihre Wange hinunter rinnt, fasst bildlich zusammen, welche Stimmung das Stück überträgt. Melancholische Tränen ebenso wieTränen der Freude tragen die Leiden der Lulu bis in die Zuschauerränge. So tragisch wie es der Titel „eine Monstretragödie“ vermuten lässt.

Text: Kate Greer und Leah Wewoda
Bildrechte: Stuttgarter Ballett und Carlos Quezada