Die Festspiele Zürich 2016 stehen unter dem Zeichen Dadas und wir haben uns aufgemacht,
das Spektakel mit anzusehen. Ein Wochenende sollen wir hier bleiben, sind soeben
angekommen. Es ist heiß und unsere Kleidung klebt uns am Körper. Wir sitzen in der Tram,
klammern uns an unser Gepäck, sind frustriert: seit einer Stunde gondeln wir mit den
öffentlichen Verkehrsmitteln Zürichs umher und waren bisher einfach zu dumm, unsere
Unterkunft zu finden.
Jetzt wieder auf dem Weg zum Ballett, keine Chance. Dann eben keine
Dusche zuvor, keine Erfrischung. Wir sind Kulturjournalisten: so etwas müssen wir abhaben
können. Auf einer Zugtoilette ziehen wir uns um, erscheinen nun doch noch im Hemd in der
Vorstellung. Erst die Kühle des Tanzstudios – tief unter der Erde – bringt Linderung. Es wird
dunkel, es beginnt.
Ballett ist eine traditionsreiche Kunstform und besonders den jungen Leuten fällt es oft
schwer, sich für die alten, bereits tausendmal aufgeführten Klassiker zu begeistern. Pirouette
um Pirouette dreht sich die Welt des Tanzes um sich selbst, mag man meinen, und umso
schöner ist es, wenn auch das Neue, das Unkonventionelle, einmal in einem großen Haus
Europas zelebriert wird. Einmal pro Spielzeit bietet das Ballett Zürich seinen Tänzern die
Möglichkeit, sich nicht nur als Performer, sondern auch als Junge Choreografen zu
präsentieren und die Ergebnisse dieser Experimente geben Hoffnung, da sei doch noch
Dynamik, da sei Kraft im Ballett.
Zehn Choreografien durften wir sehen (wir: zwei Laien in der Ballett-Kritik) und wir waren
beeindruckt von diesem Spektakel. Doch welche Tanzstücke erwähnen? Wem
Aufmerksamkeit widmen? Welche Namen sind es wirklich wert genannt zu werden? Das
Ergebnis unserer Überlegungen, ist ein Streitgespräch, eine Reihe kleiner Plädoyers für
Tanzspiele, die uns im Gedächtnis blieben.
Pornpim Karchai: Sense(less)
Leonhard
Vor Beginn der Aufführung drückte man uns jeweils eine Schlafmaske in die Hand: nun
wissen wir warum. Pornpim Karchai will erkunden, wie ein Publikum Tanz erlebt, wenn der
wichtigste, der visuelle Kanal geblockt wird, die Balletterfahrung sich auf das Hören der
Musik beschränkt, immer mal wieder durchbrochen von den Geräuschen, die ihre Tänzer auf
dem Parkett machen –wenn auf Zehenspitzen getippt wird und ein Sprung sein abruptes Ende
findet. Tanz oder nur Vorstellung von Tanz?
Später ist man ohne Augenbinde und es ergibt sich ein sinnlicher Paartanz, doch auch dieser
Teil der Choreografie ist alles andere als klassisch: Immer wieder ruht der Tanz in Figuren,
doch anstatt sich theatralisch hinzugeben, rezitiert die Ballerina – ein Rezept für
Pfannkuchen! Das erste Mal Dada diesen Abend und (wie auch sonst?) mehrsprachig. In
Englisch und Slawisch geht der Dialog hin und her in offenbarer Sinnlosigkeit.
Was diese Choreografie an dem Abend für mich hervorhebt, ist der Versuch, den Tanz
herauszuheben aus der Art und Weise, wie er normalerweise erfahren wird. Die Augenbinde
limitiert den Zuschauer auf eine visuelle Erfahrung und sicherlich werden damit die
Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt, die diese Kunstform bietet, doch wann sieht (hört!)
man es denn schon in dieser Form?
Benoît Favre: Sandbox 1
Merlin
Bei Sense(less) dachte ich, gut, ganz verschwendet war der Abend nicht. Als dann Sandbox 1
kam, war ich begeistert. Wie plump der Dreiakter zuvor? Wie schwerfällig die Teilung, wie
unrhythmisch die Übergänge? Was Favre hier veranstaltet spielt in einer anderen Liga. Auf
eine Musik, die passender nicht sein könnte, tanzen zwei Frauen und drei Männer eine
virtuose Mischung aus Ballett und modernem Tanz, die besonders in ihrer Schlichtheit
beeindruckt. Das Kostüm, nicht mehr als schwarz und orange, die Loslösung vom Bühnenbild
– das Spiel auf dem Tanzboden läuft nur durch die Körper, die sich auf ihm winden, die
spielerisch wechseln zwischen Fluss und Mechanik.
Ein Motiv zieht sich durch die ineinander übergehenden tänzerischen Experimente: die
Kontrolle, das „Führen“ durch den Mann. Zwei Männer legen ihrer Dame die Hände aufs
Gesicht, verschließen ihre Augen und dominieren die weiblichen Bewegungen durch ihr
männliches Drängen. Später wird dieses Konstrukt aufgebrochen, wenn einmal die Herren
und dann die Damen miteinander tanzen, sich abwechseln in ihrer Führung, einen Reigen
eingehen, der frei von konventionellen Strukturen ist.
Favre ist kein Neuling in der Welt der Choreografie und es ist gut, wie wohl er sich dort fühlt:
Er hat Talent.
Dominik Slavkovsky: How To Save The World
Merlin
Wo in Sense(less) schon Einflüsse von Dada zu spüren waren, werden bei Slavkovsky, dessen
Choreografie vermutlich die modernste des Abends ist, Gedanken und Muster der
Dada-Bewegung gewollt aufgegriffen und umspielt. Ali aus Le Corsaire tritt ans Rednerpult,
sein Kostüm ein textilgewordener Witz, und anstatt seine Choreografie zu tanzen, liest er sie
vor. „Audience, applause!“, befielt er am Ende, nur um Platz zu machen für einen jüngeren
Tänzer: ein Junge soll es sein, in Unterhose, rotzfrechem T-Shirt und Kapuzenjacke. Er spielt
auf seinem Gameboy und wird – tänzerisch, wie vom Ausdruck – selbst Super Mario. Er
springt, robbt, sammelt Sterne und freut sich auf gestrichene 8-Bit-Musik. Die absolute
Verdrehung erfährt das Stück durch den Auftritt der Mutter, transvestitisch, sexualisiert, die
ihrem Sohn verbietet, weiterzuspielen. „Sind deine Hausaufgaben erledigt? Ist dein Zimmer
aufgeräumt? Ist deine Wäsche gemacht? Ist überall Frieden auf der Welt? Ich denke nicht.“
Ein typischer Streit im Kinderzimmer, man kennt es.
Slavkovskys schafft den Spagat zwischen guter Tanzchoreografie und ordentlicher
Unterhaltung. Es ist Theater, ein kleines Stück mit guter Handlung. Dabei sind Tänzer
zugleich Schauspieler und jeder Blick ins Publikum ist bedeutend: Seine Performer brauchen
Charakter und das stärker als in klassischeren Tanzformen. Vielleicht ist eben das, was mich
so sehr beeindruckt: Die Lebendigkeit und Dynamik, das Szenische, fast Cineastische – für
mich die Zukunft des Balletts.
Surimu Fukushi: DiAl
Leonhard
DiAl ist für mich das Werk des Abends, das Stück, das Dada zeigt wie kein anderes.
Eingeleitet vom Klingeln eines Telefons, erscheint ein Pärchen auf einer Bank. Sie
verschlingen sich ineinander, stoßen sich weg, ziehen sich an, während sie einander verspielt
erzählen, was um sie herum passiert. Streiten um ein offensichtliches Thema. Es beobachtet
sie ein dritter Tänzer, doch das Gespräch läuft weiter, in vollendet dadaistischer Gedichtform
vorgetragen, und kulminiert in dem Satz: „We are happy together!“
Die Handlung kippt ins Gegenteil, es wird gewalttätig. Die drei Tänzer brechen einander
Knochen, das Knacken des Genicks, Köpfe werden abgehackt. Plötzlich kehrt das Telefon in
die Szene zurück, das Mädchen telefoniert, während sie von den beiden Männern umgarnt
wird in einem verspielten Tanzakt. Es wird erzählt eine Geschichte, die man nicht verbinden
kann, in einer komischen Art, die von keinem anderen Stück übertroffen wird.
Es mögen die Erwartungen sein, die man an einen Abend mit Dada stellt, doch diese
Verbindung von Sinn und Unsinn, Liebe und Streit, Harmonie und Gewalt, während ein
Telefon im Vordergrund steht, aber gleichzeitig unwichtig ist – das alles, dargestellt in einer
kurzweiligen Choreografie und getragen von der Form des Balletts, machen DiAl einzigartig
und zu einer großartigen Zurschaustellung des Talents von Surimu Fukushi.
Wir verlassen das Gebäude. Es ist hell draußen, das hätten wir nicht gedacht. Saßen wir nicht
länger dort drinnen? Etwas jedoch hat sich verändert: Es ist kühler geworden und der Himmel
ist nicht mehr blau. Wolken sind aufgezogen und verleihen der Szenerie etwas Bedrohliches.
Ein erster Tropfen fällt, ein zweiter, dann bricht der Damm. Durch Ströme hasten wir zur
Tram. Erst am nächsten Abend soll es wieder aufhören.
Text: Leonhard Volz und Merlin Krzemien