Die sieben Todsünden / Peaches live in concert

Die sieben Todsünden // Schauspiel Stuttgart und Peaches // 10.03.2019

Nach 23 Jahren ist es endlich wieder soweit: Eine spartenübergreifende Produktion erobert den Bühnenraum der Staatstheater Stuttgart – Oper, Ballett und Schauspiel an einem Abend. Mit der Vorlage »Die Sieben Todsünden« steht ein eher unbekanntes Werk aus Brechts Oeuvre auf dem Spielplan, unter der Regie von Anna-Sophie Mahler.

Das „Ballett mit Gesang“ wurde 1933 in Paris am Théâtre des Champs-Élysées uraufgeführt. Es handelt von zwei Geschwistern namens Anna I und Anna II, die auf einer Tour durch die amerikanischen Metropolen so viel Geld erlangen sollen, dass es zum eigenen Heim reicht.

So der offizielle Auftrag aus Annas Elternhaus. Es folgen sieben Bilder, wobei sich jedes einer den Sieben Todsünden widmet und dabei in vermeintlich alltäglichen Szenen persifliert. All das passiert im gewohnt Brecht‘schen Tonfall, dazu die kongenialen Kompositionen von Kurt Weill. Anna wird in der Inszenierung von Anna-Sophie Mahler, gleich durch vier Inkarnationen dargestellt.
Die Bühne entpuppt sich als Boxring, hier her wurde findet das alltägliche Ringen des Menschen, der Kampf um das Leben, das Überleben und die Sicherung der eigenen Existenz verlagert. Anna ist Symbol für diesen Kampf, die Höhen- und Talfahrten des Lebens. Im Mittelpunkt ringen der Balletttänzer Louis Stiens und die Schauspielerin Josephine Köhler um das bildhafte Siegerpodest. Die beiden harmonieren als Spielpartner, ergänzen einander auf der Bühne. Hierbei wagen sie Ausflüge in die angrenzende Sparte, gekonnt: Köhler ist mit einer immensen Körperlichkeit und starken Mimik in die Performance eingebunden und überzeugt mit vollem Einsatz. Ebenso Stiens, der an den Dialogen sprachlich mitwirkt. Um den Ring positionieren sich die Opernsänger um Bariton Elliott Carlton Hines, den Tenören Gergeley Németi, Christopher Sokolowski und Bass Florian Spiess als schrullige Boxrichter, die parzengleich und sinnbildlich als oberstes Patriarchat, das Geschehen lenken und Annas Weg determinieren

Das Orchester unter der musikalischen Leitung von Stefan Schreiber, ist ebenfalls auf der Bühne, ordnet sich dezent um das Podium und wirkt wie eine Erweiterung der Zuschauerränge, die unmittelbar das Geschehen in der Arena verfolgt. Was anfangs durch Gaze-Vorhang, Schattenspiel und Lichtinstallationen imposant wirkt, nutzt sich schnell ab und lässt die kreative Vielfalt in den einzelnen Bildern vermissen. Der Boxkampf, der sich durch alle Szenen zieht ist vorhersehbar. Zu vorhersehbar, dadurch wird er langatmig, wiederholt sich in sich. Der Ausflug der einzelnen Akteure in die jeweils andere Sparte beschränkt sich, abgesehen von Köhler und Stiens, auf ein Mindestmaß. Leider werden die „Scheuklappen“ nicht abgelegt. Schade, der erhoffte Austausch findet nicht statt. Das Orchester agiert autonom und mit den Sängern, so wie es der Zuschauer von einem klassischen Opernbesuch erwartet. Das angepriesene Experiment bleibt hinter seinen Ambitionen zurück. Bedauerlich, vor allem da dieses Potenzial ersichtlich ist, aber wenig bis keine Interaktion zwischen den einzelnen Disziplinen stattfindet.

Im zweiten Teil des Abends ist es endlich so weit: Die kanadische Electroclash-Ikone Peaches macht die Bühne zu ihrem Revier. Bloß: Wo bleibt der Zusammenhang, sprich die inhaltliche Einbettung ins Geschehen? Ihre grandiose Ode an die sexuelle Freiheit wirkt wie ein choreografiertes Konzert. Wo der rote Faden verläuft zwischen Weills Komposition, Josephine Köhlers Monolog und dem audiovisuellen Spektakel, ist nicht wirklich ersichtlich. Die Puzzleteile wirken inhaltslos aneinandergereiht. Peaches‘ Energie und Spielfreude retuschiert so manche Länge des ersten Teiles, bei dem die kanadische Künstlerin, die ebenfalls Anna verkörpert hat, weil sie es musste, möchte man meinen. Als hätte man der Powerfrau ein Korsett angelegt… Surreale Bilder, mit überdimensionierten, twerkenden Vulvas, wirken so, als ob sie aus einem Cronenberg Film entsprungen sind. Dazu erneut Köhler und Stiens, die sich komplett verausgaben, sexualisierend und energiegeladen performen. Das Frontaltheater des ersten Teiles setzt sich fort, viel ungenutzter Bühnenraum ist da, man fragt sich, zu welchem Zweck die Performance immer wieder zentriert wird.

Die Füße wippen, man möchte sich losreißen von den Fesseln der Theaterstühle, aufstehen, tanzen und sich in den ein oder anderen Szeneclub wegträumen. Vereinzelnte Aufrufe aus der Menge und Peaches versucht gekonnt diese springenden Funken zu einem Feuer anzufachen. Der letzte Schritt fehlt und sich des Theaterraumes bewusst, reichen die Reaktionen des heterogenen Publikums von frenetischen Jubelstürmen bis hin zu Schockzuständen. Nicht verwunderlich, dass einige betagte Zuschauer die Ränge verlassen, obwohl zu Zeiten des 21. Jahrhunderts keines der Bilder und keiner der Texte provozieren dürfte, im Gegenteil, brav daherkommt. Nach dem kurzweiligen Bilderreigen, wieder Anfang.
Eine deutlich gealterte Anna (Melinda Witham) scheint in einer poetischen Choreografie ihren inneren Seelenfrieden gefunden zu haben und sich dem weltlichen Schmerz entzogen zu haben.

Da hat man einmal die Queen der Performance und ein grandioses Orchester auf engstem Raum zusammengepfercht, und sieht dennoch aneinander vorbei. Das Potenzial, das der Begegnung von klassischem Orchester und quietschiger Performerin entspringt, bleibt ungenutzt. Kurzum: Die Inszenierung bleibt hinter ihren Erwartungen zurück. Frech ist anders.

Text: Tobias Frühauf und Leah Wewoda

Bildrechte: Bernhard Weis